Hier finden Sie früher vorgestellte Archivalien.
Aus den Magazinen des Landesarchivs (September 2024)
Freizeitgestaltung vor 200 Jahren: Wie die Menschen im Nordwesten um 1800 auf dem Lande tanzten (NLA OL, Slg 10: Best. 297 E Nr. 41)
Wer sich für die Musik bei Hofe oder für die bürgerliche Musikkultur in den niedersächsischen Residenzen und sonstigen Städten in den letzten 400 Jahren interessiert, wird auch im Nds. Landesarchiv fündig, z.B. in den Abteilungen Hannover, Wolfenbüttel und Oldenburg. Wie aber sieht es mit Musik und Tanz abseits der urbanen und halburbanen Zentren aus? Hier sind Archive (und auch Bibliotheken) in der Regel auf „Ergänzungsüberlieferung“ aus dem privaten Bereich angewiesen, die oft als Geschenk in die bewahrenden Kulturinstitutionen gelangt.
Um einen solchen Geschenk-Fall handelt es sich auch bei einem kleinen querformatigen Büchlein aus den Beständen der Abt. Oldenburg, in dem Tänze (Tanzfiguren) und die dazu gehörenden Tonsätze aus der Zeit um 1800 dokumentiert sind (Tänze Nr. 1-51 im gebundenen Teil, 31 Melodien zu Nr. 1-51 in einem einliegenden „Anhang“). Es handelt sich um Tänze, die ein Tanzmeister namens Johann Wilhelm Heine (geb. 1742), seit 1786 in Badbergen wohnhaft, gelehrt und für sich bzw. seine erwachsenen Tanzschülerinnen und Tanzschüler niedergeschrieben hat. Ein zweites Exemplar wird zwar von dem Musik-Volkskundler Dr. Hartmut Braun auf „1797/1798“ datiert, doch liest sich das Jahr paläographisch eigentlich als „1791“. Die Tänze des ‚Oldenburger‘ Tanzbüchleins stammen jedenfalls ursprünglich aus dem Artland, einer Landschaft im Landkreis Osnabrück zwischen Quakenbrück und Bersenbrück mit einer vergleichsweise begüterten und gebildeten, auch musikkundigen bäuerlichen Oberschicht.
Die kleine Tänzesammlung wurde 1936 von Dr. phil. Gustav Hellweg (geb. 1908) aus Delmenhorst übergeben. Sie stammte aus dem Besitz eines Musikers Scheele aus Hesterhöge, heute Ortsteil von Wildeshausen, der das Büchlein seinerseits aus einer Wildeshauser Bürgerfamilie erhielt. Die Stadt Wildeshausen liegt nur etwa 50-60 km vom Artland entfernt. Hellweg berichtet außerdem: „Eine inzwischen verstorbene 90-jährige Frau bei Delmenhorst erzählte mir 1934, in ihrer Jugend sei noch ein Reihentanz ‚Die Jagd‘ getanzt worden, vielleicht gleichzusetzen mir Nr. 18 der Sammlung.“ Die Jugend dieser Dame dürfte somit auf etwa 1860 anzusetzen sei.
Im Rahmen der allmählichen Durchsetzung regulierter Tanzformen nach französischem Vorbild ab ca. 1700 entwickelte sich auch der Beruf des „Tanzmeisters“, oft als Wandergewerbe mit Nebenberuf. Heine selber hatte „schon manchen Tahler aus anderen Ländern verdienet“, so dass es ihm als 65-jährigem „all etwas sauer [wurde], in der Welt herumzulaufen‘“, so seine Frau in einem Bittgesuch von 1807. Tanzmeister konnten zudem auf eine seit Beginn des 18. Jahrhunderts wachsende Anzahl Tanzlehrbücher zurückgreifen.
Die drei bisher bekannten Heine-Tanzbücher bieten nicht die genaue Schrittfolge bei den Tänzen, sondern „die Stellung der Tanzpaare zueinander und deren Tanzfiguren im Raum“. Die Forscher gehen daher davon aus, dass solche Tanzbücher „als ‚Gedächtnishilfen‘ für das vortanzende Paar oder für alle an der Tanzveranstaltung teilnehmenden Tänzer gedacht gewesen“ sind. Die Tänze tragen bei Heine teilweise bildliche, manchmal amüsant klingende Namen: „Die Wildbahn“ (Nr. 4), „Die Sonnenjungfer“ (Nr. 6), „Die Jagd“ (Nr. 18 und 26), „Der Student“ (Nr. 20), „Der Desertöhr“ (Nr.21) oder „Die Amor-Ecossaise“ (Nr. 31). Die Tanzgattungen beschränken sich aber im Wesentlichen auf die „Ecossaise“, die „Anglaise“, die „Quadrille“ und die „Contredanse“ (Kontretanz).
In seiner Darstellung „Tänze und Gebrauchsmusik in Musizierhandschriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aus dem Artland“ (Cloppenburg 1984) hat Dr. Hartmut Braun damals auf Bauernhöfen und bei Tanzmeister-Nachfahren frisch aufgefundene Handschriften erstmals ausgewertet, daneben auch das im Archiv in Oldenburg erhaltene Exemplar. Ein Digitalisat liegt noch nicht online vor, die Veröffentlichung des Museumsdorfs Cloppenburg bietet jedoch zumindest ein Faksimile.