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Aus den Magazinen des Landesarchivs (Oktober 2018)
Polizeiliche Fahndung nach einem von tschechischen Emigranten, u.a. Prof. T. G. Masaryk verfassten Manifest zur Errichtung eines selbständigen tschechisch-slowakischen Staates (1916) (NLA ST Rep. 174 Kehdingen Nr. 231)
Wenn in diesem Jahr der politischen Umbrüche im Europa des Jahres 1918 gedacht wird, so gehört zu diesen außerordentlich vielfältigen Ereignissen auch der Zerfall Österreich-Ungarns und die Gründung der Tschechoslowakei, die am 28. Oktober 1918, zwei Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs, als Republik ausgerufen wurde. Führender Protagonist der tschechisch-slowakischen Unabhängigkeitsbewegung war der Philosoph, Schriftsteller und Politiker Tomáš G. Masaryk (1850–1937). Während des Ersten Weltkriegs lebte Masaryk in der Emigration, kämpfte aber zusammen mit anderen Exiltschechen unermüdlich für seine politische Idee. Unter seiner Führung schlossen sich die auslandstschechischen Organisationen zum „tschechischen Auslandskomitee“ zusammen, das in einem Manifest am 14. November 1915 die Errichtung eines unabhängigen tschechoslowakischen Staates als ihr Ziel verkündete und Ursprung des späteren tschechischen Nationalrats war.
Die Wiener Monarchie beobachtete diese politische Agitation natürlich äußerst argwöhnisch und versuchte sie auch auf internationaler Ebene mit Hilfe der verbündeten Mächte zu unterdrücken. Dass diese hohe europäische Politik selbst in den entlegenen hannoverschen Elbmarschen ihren Widerhall fand, davon zeugt die Rundverfügung des Stader Regierungspräsidenten vom 18. Januar 1916 an die Polizeibehörden des Bezirks, die in der Aktenüberlieferung des Landratsamtes des Kreises Kehdingen in Freiburg (Elbe) erhalten ist.
Vier Wochen nach der Erklärung vom 14. November bat die K. K. (kaiserlich-königliche) Polizeidirektion in Wien mit Schreiben vom 16. Dezember 1915, das offenbar an die verbündeten deutschen Behörden gerichtet war, auf ein von Masaryk und anderen tschechischen Emigranten unterzeichnetes Manifest zu achten, das „auf die Errichtung eines selbständigen tschechisch-slovakischen Staates“ hinarbeite und angeblich in größerer Menge in die „Sudetenländer“ – die damalige Bezeichnung für Böhmen, Mähren und den tschechischen Teil Schlesiens – eingeschmuggelt werden solle, und insbesondere Reisende aus Holland, Dänemark und der Schweiz untersuchen zu lassen.
Die tschechische Frage, die die Stabilität des verbündeten Österreich-Ungarn gefährdete, wurde auch in Deutschland als politisch hochsensibel eingeschätzt, und das Schreiben der Wiener Polizeidirektion wurde über die Militärverwaltung der Bundesstaaten im Land verbreitet. Das Stellvertretende Generalkommando des preußischen IX. Armeekorps in Altona leitete eine Abschrift des Wiener Schreibens am 6. Januar 1916 an den Regierungspräsidenten in Stade weiter, mit dem Befehl, die Manifeste gegebenenfalls zu beschlagnahmen und Personen, die diese bei sich führten, festzunehmen. Am 18. Januar leitete der Regierungspräsident diese Anweisung als Rundverfügung an alle Polizeibehörden im Regierungsbezirk weiter. Am 23. Januar ging sie im Landratsamt in Freiburg ein, der die Verfügung als Umlauf den Gendarmerie-Stationen in Freiburg, Drochtersen und Bützfleth zur Kenntnis gab. Die Beamten zeichneten jeweils die Kenntnisnahme ab.
Der Vorgang enthält keine Nachricht darüber, dass das Manifest in diesem entlegenen Teil Preußens aufgefunden wurde. Dies erscheint auch ganz unwahrscheinlich. Tomáš G. Masaryk wurde von 1918 bis 1935 der erste Präsident der tschechoslowakischen Republik und genoss international hohes Ansehen.
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