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E pluribus unum

Oder: „Großreinemachen“ unter den Archivalien des Braunschweigischen Staatsministeriums (NLA WO 12 Neu)


Bildrechte: Meike Buck / NLA

Wenn zwei Ressorts der obersten Behördenebene einer Person unterstellt werden, ist innerhalb aktueller politischer Berichterstattung nicht selten von einem „Superminister“ die Rede. Zumeist handelt es sich um verwandte Tätigkeitsbereiche, klassischer Weise um das Finanz- und Wirtschaftsministerium, aber auch einander ferner liegende Themenfelder können offenbar in einer Hand verwaltet werden, wie gegenwärtig Christine Lambrecht als Superministerin für Justiz und Verbraucherschutz sowie Familie, Senioren, Frauen und Jugend demonstriert. Den „Superminister“ gibt es terminologisch mindestens seit den 1930er Jahren, obwohl die Kopplung von Ressorts Jahrhunderte zurückreicht. Heute kaum noch vorstellbar, aber in früheren Zeiten Gang und Gebe war die Verschmelzung verschiedener Ressorts innerhalb eines übergreifenden Ministeriums. Ein solches „Superministerium“ stellte das Braunschweigische Staatsministerium dar, das unter der Ägide verschiedener verantwortlicher Minister zwischen 1813 und 1946 sämtliche ministerialen Aufgaben in einer Behörde mit zahlreichen Abteilungen in einem Haus bündelte (siehe hierzu auch den Blogbeitrag von Brage Bei der Wieden vom 3. Juni 2021).

Diese institutionalisierte Allzuständigkeit schuf in einer Zeit rasant wachsender Schriftlichkeit gewaltige Aktenberge, die es nach 1946 ins Staatsarchiv Wolfenbüttel, heute Niedersächsisches Landesarchiv, zu überführen galt. Da bei der archivischen Bewertung, also der Entscheidung über die Archivwürdigkeit von Schriftgut, der hierarchischen Stellung einer Behörde große Bedeutung zukommt, musste der allergrößte Teil der Unterlagen übernommen werden. Schätzungsweise 900 laufende Meter Schriftgut, das heißt circa 70.000 Akten, waren ins Archiv zu schaffen, zu erschließen und zu magazinieren. Um den Massen Herr zu werden und zwecks besserer Übersicht erfolgte eine doppelte Segmentierung des Schriftguts. Statt einen einheitlichen Bestand „12 Neu Braunschweigisches Staatsministerium“ zu schaffen, wurden zehn Teilbestände gebildet:

12 Neu Arbeit und Soziales, 12 Neu Finanzen, 12 Neu Forsten, 12 Neu Inneres, 12 Neu Justiz, 12 Neu Kultus, 12 Neu Landwirtschaft und Domänen, 12 Neu Personalakten, 12 Neu Präsidialabteilung, 12 Neu Wirtschaft.

Bei der Bestandbildung wurde zwar darauf geachtet, im Sinne der Provenienz die jeweiligen Abteilungen als Herkunftsort zu berücksichtigen, im Wesentlichen aber erfolgte sie nach sachlichen Kriterien (Pertinenz). Oftmals ließ sich nicht exakt ermitteln, welche Abteilung die Federführung ausgeübt hatte. Statt sich für einen Bestand zu entscheiden, wurden zahlreiche Akten als sogenannte Doppelverzeichnungen in mehreren Beständen hinterlegt. Ein Musterbeispiel ist der Bestand „12 Neu Personalakten“, der sämtliche Personalakten des Ministeriums umfasst, die teilweise aber auch bei den zuständigen Abteilungen als Doppelverzeichnungen angegeben wurden.

Eine zweite Segmentierung erfolgte, indem die einzelnen Ablieferungschargen in der Signatur abgebildet wurden, und zwar über alle zehn 12-Neu-Bestände hinweg. Denkbar wäre beispielsweise: 12 Neu Inneres 1 Nr. 100 und 12 Neu Wirtschaft 1 Nr. 101 für Unterlagen der ersten Lieferung. Um ein Auseinanderklaffen der Teilbestände und Springnummern zu verhindern wurden die Verzeichnungseinheiten virtuell über sogenannte „Lagerungsbestände“ mit einem (eigentlich sogar mehreren) nicht vorhandenen Gesamtbestand, einem sogenannten „Schattenbestand“, verbunden. Auf diese Weise erhielten alle Archivalien des Staatsministeriums eine einheitliche Signatur 12 Neu (ohne einen Zusatz wie „Inneres“) – oder hätten eine solche erhalten sollen, denn das komplizierte Verfahren wurde nicht durchgängig zur Anwendung gebracht. Die Erschließung von vielen Händen führte auch sonst zu vielen weiteren Mängeln und Inkonsequenzen, die hier nicht vertieft werden sollen. Sie wurden durch die Überführung der analogen Findbücher in das Archivprogramm AIDA (Retrokonversion) und eine Migration dieser Daten in das Archivprogramm Arcinsys im Jahre 2014/2015 noch verstärkt. Das gravierendsten Strukturdefizite der 12-Neu-Bestände ist aber letztlich darin zu sehen gewesen, dass die Segmentierung in zehn Teilbestände bei virtueller Zusammenlegung das Auffinden und die Bestellung von Archivalien zu einem sehr schwierigen Unterfangen machte.

Die Corona-Krise der Jahre 2020/21 und die daraus resultierende konzentrierte Arbeit im Homeoffice bot dem Verfasser nun die Möglichkeit, die zehn Teilbestände wieder zusammenzulegen. Diese Zusammenlegung hatte eine weitreichende Bestandbereinigung, ein digitales „Großreinemachen“, zur Voraussetzung, auch wenn freilich nicht alle Defizite beseitigt werden konnten. Beispielsweise duldet Arcinsys nur in sehr beschränktem Maße Doppelverzeichnungen, so dass diese nach genauer Sichtung eliminiert werden mussten. Sämtliche Daten zur Magazinierung waren anzupassen, Sonderzeichen zu beseitigen, die Bestandsvorworte zu überführen und zahlreiche weitere Arbeitsschritte nötig, bis mittels einer Kette von Datenexporten und -importen aus zehn Beständen einer gemacht werden konnte. E pluribus unum, wie die die Verfassung der USA die Vereinigung ihrer Bundesstaaten bezeichnet, gilt somit auch für das Braunschweigische Staatsministerium, das nun erstmals als ein Bestand besteht und im Archiv wieder als das „Superministerium“ zu erkennen ist, welches es bis 1946 war. Es ist zu hoffen, dass die erleichterten Benutzungsmodalitäten der weiteren Erforschung dieser Behörde und der von ihr ausgeübten Tätigkeiten förderlich sein mögen.

Entdecken Sie das „Superministerium“:
Der neue Bestand NLA WO 12 Neu Braunschweigisches Staatsministerium (http://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction?detailid=b22174).

Die Akten des Braunschweigischen Staatsministeriums im Magazin des Landesarchivs Wolfenbüttel. Bildrechte: Meike Buck / NLA
Bildrechte: Meike Buck / NLA
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