Eine szenische Lesung zum Pastorenmord in Reepsholt 1914 - eine Ermittlungsakte der Königlichen Staatsanwaltschaft Aurich diente als Grundlage für die Veranstaltung
Es war ein spektakulärer Mord, der vor 110 Jahren die Region Ostfriesland erschütterte. In der Nacht vom 2. auf den 3. Januar 1914 war der Putzer Christoph Christoffers in die Kirche in Reepsholt eingedrungen, um den Opferstock zu knacken. Dabei wurde er von dem Pastor Christian Wilhelm Loets (1852-1914) überrascht. Es kam zum Handgemenge, mehrere Pistolenschüsse fielen. Diese wurden jedoch nicht bemerkt, denn so kurz nach dem Jahreswechsel war es nicht ungewöhnlich, dass immer noch gelegentlich Silvesterböller gezündet wurden. Erst einige Zeit später wurde der Pastor blutüberströmt am Boden der Reepsholter Kirche aufgefunden. Der hinzugerufene Sanitätsarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Von dem Täter fehlte zunächst jede Spur.
Die in der Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs aufbewahrte, neunbändige Ermittlungsakte der Königlichen Staatsanwaltschaft zu Aurich (NLA AU Rep. 109 Nr. C 4/1 bis 4/9) bietet detaillierte Einblicke, welche Schritte zur Aufklärung des Verbrechens unternommen wurden. Ebenso wie der Fall ist auch diese Akte durchaus herausragend. Denn sie enthält nicht nur die obligatorischen Zeugenaussagen, den Obduktionsbericht, Sachverständigengutachten, Anklageschrift und Urteil, sondern auch einen umfangreichen Bildband. Denn im Juni 1914 hatte das Landgericht Aurich zu einem Ortstermin in die Kirche von Reepsholt eingeladen, um an Ort und Stelle zusammen mit dem Beschuldigten die Tat zu rekonstruieren. Davon wurden zahlreiche Fotos gemacht, die zur Akte genommen wurden.
Erst 3 ½ Jahre nach der Tat konnte die Gerichtsverhandlung gegen Christoffers in Aurich stattfinden. Diese Verzögerung ergab sich durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Denn nunmehr gestalteten sich die Ermittlungen sehr viel schwieriger und vor allem langwieriger. Zeugen, Sachverständige, aber auch Richter und Staatsanwälte waren oftmals zum Militärdienst eingezogen und damit ortsabwesend. Das im Juni 1917 gesprochene Urteil sah für den geständigen Täter eine lebenslängliche Zuchthausstrafe vor. Allerdings sollte Christoph Christoffers das Ende seiner Haftstrafe nicht mehr erleben. Bereits im November verstarb er in der Strafanstalt Lüneburg.
Podcasts oder Dokumentationen zu „wahren Verbrechen“ haben momentan Hochkonjunktur. So lag es durchaus nahe, den spektakulären Pastorenmord von Reepsholt auf Grundlage der Ermittlungsakte einem größeren Publikum vorzustellen. Als Kooperationspartner für die Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs boten sich die „Kulturgesichter“ an. Dabei handelt es sich um zwei engagierte Frauen, Reenste Cornelis und Katja Druvenga, die seit Jahren (zunächst selbständig, inzwischen als Angestellte des Historischen Museums) kostümierte Führungen durch Aurich anbieten. Schnell war das Konzept einer szenischen Lesung entwickelt, die erstmals am Internationalen Museumstag am 19. Mai 2024 mehrmals im Stundentakt im Historischen Museum stattfinden sollten.
Dabei schlüpfte Reenste Cornelis in die Rolle der „Richterin“, die den Mordprozess von der Tat bis zum Urteil schilderte, wobei sie die anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauer immer wieder mit gezielten Fragen um Mithilfe bei der Lösung des Falles bat. Dagegen oblag es dem Gendamerie-Wachtmeister Hartwig, gespielt von dem Leiter der NLA-Abteilung Aurich, Dr. Michael Hermann, großformatige Farbkopien von Aktenseiten zu zeigen und wörtlich aus den Schriftstücken der Königlichen Staatsanwaltschaft Aurich zu zitieren. Knapp 60 Teilnehmende ließen sich eine halbe Stunde lang in die Zeit des Ersten Weltkriegs entführen, was angesichts des sonnigen Wetters an dem Pfingstsonntag ein durchaus erfreuliches Ergebnis war.
Aus Sicht der NLA-Abteilung Aurich bot die Veranstaltung die Möglichkeit, auf zwei grundlegende Archivaufgaben hinzuweisen: die Aufbewahrung historischer Quellen und deren Nutzung. Denn den interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmern konnte auf spielerische Art vermittelt werden, dass die gemeinsam inszenierte Lesung 110 Jahre nach dem Verbrechen nur deshalb möglich war, weil die damals geführte neunbändige Ermittlungsakte der Königlichen Staatsanwaltschaft bis heute überliefert ist. Und darüber hinaus wurde ausdrücklich betont: „Diese Originalakte wird heute im Niedersächsischen Landesarchiv aufbewahrt und kann – so wie die meisten dort befindlichen Archivalien – von jedermann eingesehen werden.“