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Die Toten von Wolfenbüttel – Der Friedhof der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis

In der Abteilung Wolfenbüttel wird in einem interdisziplinären anthropologisch-historischen PRO*Niedersachsen-Forschungsprojekt die Geschichte einer Residenzstadt der Barockzeit erforscht.


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Grabparzellen 51-53, Foto: Arcontor Projekt GmbH
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NLA WO 50 Slg 1015 Nr. 5

Im Frühsommer 2015 fanden im Zentrum der Wolfenbütteler Altstadt großflächige Straßenbauarbeiten statt. Als die Reichsstraße nördlich der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis aufgerissen wurde, stießen die Bagger auf zahlreiche Bestattungen des einst die Kirche umgebenden Friedhofs (Abb. oben). Kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte man begonnen, entlang der Friedhofsmauer planmäßig Erbbegräbnisse anzulegen. Diese Parzellen sind eine Besonderheit, da sie eine ähnliche Funktion wie Familiengrüfte hatten und in dieser Art bisher von keinem anderen Friedhof in Deutschland bekannt sind. Hier fanden von 1650 bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts Angehörige der Oberschicht, insbesondere die Beamten des Herzogshofes mit ihren Familien, ihre letzte Ruhe. Umgehend wurde die Denkmalpflege informiert, worauf eine archäologische Grabungsfirma zusammen mit der Anthropologin Dr. Bettina Jungklaus die nach und nach zutage tretenden Gräber freilegte, die Funde dokumentierte und 88 überwiegend aus der Frühen Neuzeit stammende Skelette barg (Abb. links).

Eine weitere Besonderheit für diesen Friedhof stellt das 1747 erschienene Begräbnisbuch des Kirchenarchivars und späteren Oberamtmanns Christoph Woltereck dar. Er überliefert darin nicht nur die Inschriften der Grabsteine, sondern listet auch die in den jeweiligen Parzellen bestatteten Personen auf, ergänzt durch Kirchenbucheinträge und Kirchenrechnungen. Außerdem fertigte er einen Plan der Kirche mit dem Friedhof an (Abb. unten links). Die auf diese Weise identifizierbaren Skelette bieten eine besondere Chance für die Erforschung der Frühen Neuzeit, weil dadurch anthropologische Untersuchungen mit historischen Quellen zur Biografie verknüpft werden können.

Erfreulicherweise wurde im Sommer 2020 ein von der Archäologischen Kommission für Niedersachsen e.V. und der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen e.V. gemeinsam beantragtes PRO*Niedersachsen-Projekt bewilligt: „Who was who - Rekonstruktion einer städtischen Oberschicht der Frühen Neuzeit (17./18. Jh.) anhand des Friedhofs der Kirche Beatae Mariae Virginis.“

Auf diese Weise konnten alle Skelette durch Dr. Bettina Jungklaus osteoanthropologisch analysiert und die einschlägigen Archivalien in der Wolfenbütteler Abteilung des Niedersächsischen Landesarchivs aufgearbeitet werden, wobei die historischen Recherchen durch die Autorin erfolgten. Mit Hilfe vielfältiger Schriftquellen konnten die Lebensverhältnisse und Vorstellungswelten der Bestatteten in bisher ungekannter Tiefe rekonstruiert werden. Gleichzeitig lassen sich aus der anthropologischen Bearbeitung der Skelettindividuen zahlreiche Aussagen zur biologischen Lebensgeschichte der Verstorbenen gewinnen. Um die verwandtschaftlichen Verhältnisse der Bestatteten zu präzisieren, wurden außerdem an einer Auswahl von Skeletten genetische Untersuchungen vorgenommen. Medizinische Untersuchungen geben Einblicke in deren Gesundheitszustand und Isotopenanalysen liefern ein detailliertes Bild der Ernährungslage.

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Mutter und ungeborenes Kind, Foto: Arcontor Projekt GmbH

Etwa 85 Prozent der Bestatteten konnten identifiziert werden. Obwohl bei der Grabung lediglich ein Teil des Friedhofs an der Hauptkirche erfasst wurde, kann man die hier geborgenen Bestatteten als einen repräsentativen Querschnitt der städtischen Oberschicht Wolfenbüttels ansehen. Darunter waren Familien von Hofbediensteten, u.a. zwei herzogliche Köche, der Hofamt- und der Küchenschreiber, aber auch Verwaltungsbeamte, wie der Hofgerichtssekretär, der Kammersekretär, Kanzleisekretär und der Amtsverwalter. Andere Bestattete verdienten außerhalb der höfischen Sphäre ihren Lebensunterhalt, darunter mehrere miteinander verwandte Kaufleute, ein Brauer, der Ratskellerwirt und der Kantor. Einige der Toten waren Ratsherren oder Kirchenvorsteher, drei brachten es sogar bis zum Bürgermeister. Viele dieser Menschen hatten noch die Zeit des Dreißigjährigen Krieges erlebt. Anhand ihrer Biografien lassen sich die Auswirkungen der Kriegsjahre, Seuchen, zweier großer Belagerungen mit Überflutung der Stadt, Einquartierung von Militär sowie die Erholung und erneute Blüte der Residenz auf die Bevölkerung nachzeichnen.

Aufgrund des ungewöhnlich reichhaltigen Bestandes an historischen Quellen in der Wolfenbütteler NLA-Abteilung wurde es möglich, für die meisten Personen vielfältige biografische Details zu erschließen. Anhand von Kirchenbüchern, Leichenpredigten, Verwaltungs-, Prozess- und Nachlassakten lässt sich ein anschauliches Bild ihres Lebens und Todes sowie ihrer Familien- und Lebensverhältnisse über mehrere Generationen nachzeichnen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem tausende von Akten umfassenden Bestand der Justizkanzlei (7 Alt) zu, der seit wenigen Jahren in Arcinsys erschlossen ist, was die Recherche enorm erleichtert hat.

Neben einer Rekonstruktion der Familien war das Augenmerk vor allem auf Quellen gerichtet, denen Informationen zum Gesundheitszustand, Krankheiten und Ernährung zu entnehmen waren. Tatsächlich ließ sich in einigen Fällen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den anthropologischen und historischen Quellen herstellen: Über die letzten dramatischen Stunden der während der Geburt verstorbenen Anna Dorothea Widdeke gibt es einen ausführlichen Bericht in ihrer Leichenpredigt (Abb. oben rechts. Bei ihrem Ehemann, dem Kammersekretär Johann Heinrich Widdeke, wurde eine durch heftiges Würgen verursachte Verletzung des Zungenbeins festgestellt. Seine in den Quellen belegten häufigen Inspektionsreisen in unsicheren Zeiten könnten damit im Zusammenhang stehen, zumal sein Nachlassinventar etliche Schusswaffen, darunter auch kleinere Pistolen aufführt, die er zu Verteidigungszwecken mit sich geführt haben wird.

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Ein weiteres Beispiel stellt eine Tote dar, die eine auffällige Wirbelsäulenverkrümmung, eine Skoliose, aufwies. Sie konnte identifiziert werden, weil der Kirchenbuchführer in ihrem Beerdigungseintrag anmerkte, es habe sich um eine „virgo gibbosa“, eine „bucklige Jungfer“ gehandelt. Bei dem Hofkoch Möser wurden bei der Untersuchung Besonderheiten an der Armmuskulatur festgestellt, die mit bestimmten Hantierungen in der Küche und Vorratsräumen zusammenhängen könnten und in seiner Dienstinstruktion festgehalten sind. Interessant ist auch der Umstand, dass sich die furchtbaren Verhältnisse, denen die Menschen bei den beiden Belagerungen von 1627 oder 1641 im Kindesalter ausgesetzt waren, am Zustand ihrer Knochen nachweisen lässt. Auffällig waren die hohe Kindersterblichkeit und die vielfach festgestellte Rachitis, verursacht durch Vitamin-D-Mangel.


Was in den Haushalten der wohlhabenden Bürger verzehrt wurde, kann man Rechnungen und Lieferverzeichnissen der Kaufleute entnehmen, die nicht nur von reichlichem Fleischkonsum zeugen, sondern auch von der Beliebtheit von Süßigkeiten, die eine Erklärung für den teilweise sehr schlechten Zustand der Zähne mancher Toten bieten. So genau die wissenschaftlichen Untersuchungsmöglichkeiten der Anthropologie und Genetik sein mögen, können sie doch nicht alle Faktoren abdecken, die das Leben dieser Menschen beeinflussten. Gerade dort, wo die naturwissenschaftlichen Disziplinen an ihre Grenzen stoßen, kommt der archivalischen Überlieferung eine besondere Bedeutung zu.


Sie liefert beispielsweise Informationen zu Ausbildung, Studium und Bildung, Arbeitsalltag, Frömmigkeit und Aberglaube, Musikvorlieben oder Schreibkenntnissen. Überraschend ist die hohe regionale Mobilität des hier untersuchten Personenkreises, denn nur eine Minderheit der Familien lebte schon seit mehr als einer Generation in Wolfenbüttel oder dem näheren Umland. Bei den meisten Familien ließen sich die überwiegend noch erhaltenen Wohnhäuser ermitteln, in einigen Fällen auch Grabsteinfragmente, zweitverwendet als Bodenbelag in der Kirche. Mehrere Nachlassinventare eröffnen faszinierende Einblicke in die Wohn- und Wirtschaftsräume der wohlhabenden Bürgerfamilien mit Möbeln, Bildern, Haushalts- und Küchengeräten, Kleidung und Schmuck (Abb. links). Die Beschäftigung mit den Kaufmannsfamilien wiederum ermöglicht Einblicke in das Geschäftsleben der Kriegs- und Nachkriegsjahre, die weiten Handelswege und Geschäftsverbindungen.


Das Projekt stellt somit eine faszinierende Nähe zu Menschen her, die ansonsten eher im Schatten der Geschichtsschreibung stehen. Durch die interdisziplinäre Kooperation zwischen Anthropologie und Archiv, die im kommenden Jahr in eine Publikation münden soll, sind Einblicke in ihr Leben und damit auch in die Geschichte einer kleinen Residenzstadt möglich, die bisher in dieser Form nicht zu gewinnen waren.

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