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27. Januar: Gedenktag für die Ermordeten und Überlebenden des Nationalsozialismus

Wir erinnern mit dem Beitrag: Freispruch für eine Hingerichtete! Der Fall Erna Wazinski und die Aufarbeitung von NS-Unrechtsurteilen


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„Strafkammer hob vollstrecktes Todesurteil auf. Freispruch für Erna Wazinski“, so lautete ein Artikel, der am 21.3.1991 in der Braunschweiger Zeitung erschien. Eine ungewöhnliche Überschrift, da die Todesstrafe bereits im Grundgesetz von 1949 abgeschafft worden war. Tatsächlich geht es in dem Artikel um einen Fall, der seinen Anfang bereits im Jahre 1944 vor dem Sondergericht Braunschweig genommen hatte und nun, nach 47 Jahren, vor dem Landgericht Braunschweig zum Abschluss kam.

Kein Urteil des Sondergerichts Braunschweig hat die Braunschweiger Justiz in der Nachkriegszeit mehr und länger beschäftigt als das Todesurteil gegen die 19jährige Arbeiterin Erna Wazinski, die im November 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde, weil sie angeblich nach einem Bombenangriff fremde Gegenstände aus den Trümmern an sich genommen habe. Ihr Schicksal stellt einen besonders eklatanten Fall der Anwendung der berüchtigten nationalsozialistischen ‚Volksschädlingsverordnung‘ von 1939 dar und gab den Anstoß für eine exemplarische Untersuchung der Praxis der Sondergerichte. Die Art der Aufarbeitung dieses Urteils nach 1945 bietet aufschlussreiche Erkenntnisse über den Zustand von Justiz und Gesellschaft der frühen Bundesrepublik.

Erna Wazinski wurde am 7.9.1925 in Ihlow bei Brandenburg als Landarbeiterstochter geboren. Ihre Eltern zogen 1931 nach Braunschweig, wo der Vater 1938 starb. Nach der Schulentlassung 1939 pflegte sie ihre herzkranke Mutter und arbeitete als Haushalts- und Küchengehilfin. Da sie vom Jugendamt Braunschweig als schwer erziehbar eingestuft wurde, überwies man sie 1942 für ein Jahr an Erziehungsheime in Wunstorf und Hannover. Nach ihrer Heimkehr im November 1943 vermittelte das Arbeitsamt Erna eine Anstellung als Hausgehilfin. Im Juli 1944 wurde sie bei der Rüstungsfirma VIGA in Braunschweig dienstverpflichtet, wo sie bis zu ihrer Verhaftung arbeitete.

Bei dem schweren Bombenangriff in der Nacht vom 14. zum 15.10.1944, durch den 90 % der Braunschweiger Innenstadt zerstört wurden, brannte das Haus 4, in dem Erna und ihre Mutter wohnten, völlig aus. Es war bereits das dritte Mal, dass sie ausgebombt wurden und dabei den größten Teil ihrer Habe verloren. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Soldaten Günther Wiedehöft, barg Erna aus einem Schacht unter den Trümmern die dort untergebrachten Sachen. Dabei fand sie zwei Koffer, einen Rucksack und einige Kleidungsstücke, von denen nicht klar war, wem sie gehörten. Der Gesamtwert der Fundsachen, unter anderem einige Kleidungs- und billige Schmuckstücke, belief sich auf etwa 200 Reichsmark. Erna nahm irrtümlich an, es handele sich um Eigentum ihrer Mutter.

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Eine Nachbarin erstattete am 18.10.1944 Anzeige gegen Unbekannt, da ihr einige Gegenstände gestohlen worden seien, und gab Erna als Verdächtige an. Darauf wurde Erna zwei Tage später von zwei Kriminalbeamten verhört. Ihr Freund Günter hörte im Nebenraum die lauten Stimmen der Polizisten sowie das Klatschen von Schlägen. Als Erna abgeführt wurde, wies ihr Gesicht Spuren von Misshandlungen auf.

Wenige Stunden später setzte Oberstaatsanwalt Wilhelm Hirte eine knappe Anklageschrift auf, die sich auf das ‚Geständnis‘ Ernas vom Vortag stützte und in wesentlichen Punkten vom tatsächlichen Geschehen abwich. Demnach habe die Beschuldigte zugegeben, in einem unzerstörten Nebengebäude einen Koffer geöffnet und diesem die beschriebenen Teile entnommen zu haben. Ihr mittlerweile an die Front zurückgekehrter Freund wurde nicht im Polizeiprotokoll erwähnt.

Angeklagt wurde Erna Wazinski nicht wegen einfachen Diebstahls, sondern wegen des viel härteren Straftatbestands des Plünderns (§ 1 der ‚Verordnung gegen Volksschädlinge‘). Es wurden keine Entlastungszeugen aufgerufen, und für eine eingehende Befragung der Angeklagten blieb auch keine Zeit, einziges Beweismittel war somit das erzwungene Geständnis. Am 21.10.1944 verkündete der Sondergerichtsvorsitzende, Landgerichtsdirektor Dr. Walter Lerche, das Todesurteil. Die Richter stuften sie als „typischen Volksschädling“ ein, obwohl sie an anderer Stelle vermerkten, dass die Verurteilte den Eindruck eines „harmlosen, ordentlichen jungen Mädchens“ hinterlassen hatte. Von der Festnahme der „Täterin“ und ihrer ersten polizeilichen Vernehmung bis zur Verurteilung zum Tode waren keine siebzehn Stunden vergangen.

Dieses Todesurteil war selbst nach damaliger Rechtsprechung außergewöhnlich hart und wurde augenscheinlich dazu genutzt, um ein Exempel zu statuieren. Wegen des Diebstahls von Gegenständen aus bombengeschädigten Häusern in der Zeit nach dem Luftangriff am 15.10. gingen bei der Polizei insgesamt 56 Anzeigen ein, doch nur in Erna Wazinskis Verfahren wurde ein Todesurteil verhängt. Im Strafgefängnis Wolfenbüttel wurden während der NS-Zeit über 500 Personen hingerichtet, Erna Wazinski war eine der 31 weiblichen Hingerichteten.

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Erst nachdem ihr Anwalt und auch Erna selbst Gnadengesuche eingereicht hatten, ließ der Vorsitzende Richter Lerche Ermittlungen zu ihren Lebensumständen anstellen. Staatsanwalt Magnus stieß bei seinen Untersuchungen durchaus auf positive Aussagen über die Verurteilte, aber auch auf ein äußerst negatives Zeugnis des Braunschweiger Jugendamtes, das Erna als ein „ein willensschwaches, triebhaftes, leichtfertiges Mädchen“ ohne Verantwortungsgefühl und mit schlechtem Umgang darstellte. So empfahl die Anklagebehörde, eine Begnadigung der Verurteilten abzulehnen.

Die Hinrichtung durch das Fallbeil erfolgte, nach Wochen qualvollen Wartens, am 23.11.1944 im Strafgefängnis Wolfenbüttel. Noch am Tag der Vollstreckung verkündeten Plakate mit schwarzer Schrift auf rotem Grund, dass Erna Wazinski als „Volksschädling“ hingerichtet worden sei.

Vergeblich versuchte ihre Mutter in den Nachkriegsjahren eine Rehabilitierung ihrer Tochter zu erreichen. 1952 wurde der Fall vor dem Landgericht neu verhandelt. Das Gericht stützte sich allerdings nur auf die früheren Prozessakten und zog keine neuen Zeugen hinzu. So wurde die Strafe lediglich posthum gemildert, indem man das einstige Todesurteil in eine Freiheitsstrafe von neun Monaten wegen Diebstahls umwandelte und die Hingerichtete somit erneut schuldig sprach.

Auch zwei weitere Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens blieben ohne Erfolg. 1965 stellten die Richter sogar fest, dass die ‚Volksschädlingsverordnung von 1939 geltendes Recht gewesen sei und nicht als „schlechthin unverbindlich, weil unsittliches” Gesetzesrecht angesehen werden könne. Da nun sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft schienen, wurde der Fall endgültig zu den Akten gelegt.

Eng mit dem Namen von Erna Wazinski verbunden ist der des Juristen Dr. Helmut Kramer, der mit ihrem Fall erstmals 1965 als junger Gerichtsassessor in Berührung kam. Seither setzte er sich jahrzehntelang für ihre Rehabilitierung ein und bemühte sich darum, anhand dieses Falls die Rechtsprechung der Sondergerichte aufzurollen, denn viele Richter und Ankläger aus den Sondergerichten waren auch nach 1945 wieder in der Justiz tätig, zum Teil in einflussreichen Funktionen.

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Ende der 1980er Jahre recherchierte ein Journalist über den Fall. Seine Ergebnisse flossen in eine aufsehenerregende Rundfunkreportage auf NDR 4 ein, die am 19.10.1989 gesendet wurde. Nun meldeten sich weitere Zeitzeugen, darunter Ernas damaliger Freund Günter Wiedehöft. Erstmals sagte dieser öffentlich aus, dass Erna mit seiner Hilfe in den Trümmern lediglich Sachen geborgen habe, von denen sie vermutete, dass sie ihrer Mutter gehörten. Seine Aussage belegte, dass das polizeiliche Geständnis offensichtlich durch Schläge erzwungen worden war. Auch andere Zeugen bestätigten, dass Erna intensiv nach ihrer Mutter und einem Nachbarn gesucht habe, dessen Eigentum einige Gegenstände hätten sein können.

Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse beantragte Helmut Kramer ein Wiederaufnahmeverfahren. Von seinem Engagement und dem seiner Ehefrau, der Rechtsanwältin Barbara Kramer, zeugen zahlreiche Anträge und Schriftwechsel in den Akten des Wiederaufnahmeverfahrens. Diese enthalten außerdem die Aussagen der neuen Zeugen, darunter die von Wiedehöft und einer Freundin Ernas, die sich sogar aus England gemeldet hatte, ferner das Sendemanuskript der Rundfunkreportage, Presseartikel und Kopien der wichtigsten Dokumente aus den älteren Verfahren, die einen unmittelbaren Vergleich der völlig unterschiedlichen Ermittlungsergebnisse von 1944 und 1990/91 ermöglichen.

Das von der Presse aufmerksam verfolgte Wiederaufnahmeverfahren beim Landgericht Braunschweig endete durch Beschluss vom 19.3.1991 mit einer posthumen Aufhebung des Todesurteils und einem Freispruch für Erna Wazinski. Möglich war dies jedoch nur, weil sich trotz des großen Zeitabstandes noch neue Entlastungszeugen gefunden hatten und die von ihnen geschilderten Sachverhalte dem Sondergericht 1944 unbekannt gewesen waren. Zu der von Kramer angestrebten generellen Verurteilung der Arbeit der Juristen des Sondergerichts kam es dagegen nicht. Erst nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege am 1.9.1998 wurden alle Urteile nach der Verordnung gegen ‚Volksschädlinge‘ pauschal aufgehoben.

Als Folge des Urteils setzte die Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig, in deren Diensten der einstige Vorsitzende Richter Lerche seit 1951 als angesehener Oberlandeskirchenrat gestanden hatte, eine Kommission ein, die seine frühere Tätigkeit am Sondergericht Braunschweig untersuchte. Das Wiederaufnahmeverfahren fand seinen Niederschlag in diversen Fachpublikationen und führte außerdem dazu, dass das Schicksal Erna Wazinskis von Journalisten, Schriftstellern und Theatermachern aufgegriffen und literarisch verarbeitet wurde.

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