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Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg in Ostfriesland am Beispiel der russischen Kriegsgefangenen und des KZ-Außenlagers Engerhafe

Knapp 80 Teilnehmer informierten sich am diesjährigen Tag der ostfriesischen Geschichte über ein dunkles Kapitel ostfriesischer Historie


Bildrechte: Paul Weßels
Die Vortragenden am Tag der Ostfriesischen Geschichte am 19. November 2022 im Landschaftsforum: Dr. Simone Erpel und Dr. Rolf Keller

Auch Ostfriesland hat während des Zweiten Weltkriegs sehr stark von Zwangsarbeit profitiert. Weit mehr als 300 Lager unterschiedlichster Art in über 200 Orten der ostfriesischen Halbinsel können nachgewiesen werden. Mit diesem thematischen Einstieg begrüßte Rico Mecklenburg, Präsident der Ostfriesischen Landschaft, die knapp 80 Teilnehmer:innen, die zum 23. Tag der ostfriesischen Geschichte am Samstag, den 19. November 2022 ins Landschaftsforum gekommen waren. Die Ausrichtung der traditionellen Veranstaltung hatten in diesem Jahr die Landschaftsbibliothek und die Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs gemeinsam mit dem Verein Gedenkstätte KZ Engerhafe übernommen.

Nachdem mit Unterstützung des Landkreises Aurich eine Projektstelle in Engerhafe finanziert werden konnte, um die neue Dauerstellung in der Gedenkstätte zu konzipieren, die gleichzeitig auf das System der zahlreichen Zwangsarbeitslager im Landkreis Aurich hinweist, hatten Landschaft, Archiv und Gedenkstätte bereits am 18. Mai 2022 einen Workshop organisiert, um den Stand der Forschung zur NS-Zwangsarbeit und der Zwangsarbeitslager in Ostfriesland zu diskutieren (https://ostfrhist.hypotheses.org/1241). Trotz dieser wichtigen Ansätze – so Mecklenburg – sei weiterhin „eine grundlegende wissenschaftliche Auseinandersetzung zu dem Thema dringend notwendig“.

In einem ersten Vortrag befasste sich Dr. Rolf Keller von der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten mit dem Arbeitseinsatz und den Lebensbedingungen sowjetischer Kriegsgefangener in Ostfriesland. Prinzipiell war es nach der Genfer Konvention zulässig, Kriegsgefangene auch bei Arbeitsmaßnahmen einzusetzen. Da aber die dort gleichzeitig formulierten Bedingungen für den Arbeitseinsatz von deutscher Seite in keiner Weise erfüllt wurden, ist es gerechtfertigt, auch bei den sowjetischen Kriegsgefangenen von Zwangsarbeit zu sprechen. Die Invasion Russlands 1941 war nicht als Eroberungs-, sondern als Vernichtungsfeldzug geplant. Daraus ergab sich auch, dass der massenhafte Tod der sowjetischen Kriegsgefangenen, die als „unnütze Esser“ oder „bolschewistische Mordbestien“ angesehen wurden, Teil des strategischen Kalküls der NS-Führung und der Wehrmacht waren. Das von Keller in seinem Vortragstitel aufgeführte Zitat: „Da erfahrungsgemäß mit Todesfällen im Lager zu rechnen ist …“ stammt übrigens aus einem Schreiben des Domänenrent- und Bauamtes Norden vom 21. März 1942 über die Anlage eines Begräbnisplatzes für sowjetische Kriegsgefangene (NLA AU Rep. 52, Nr. 435 https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction.action?detailid=v1555136).

Bildrechte: Paul Weßels
Teilnehmende der gut besuchten Veranstaltung verfolgen den Vortrag von Dr. Rolf Keller über die sowjetischen Kriegsgefangenen in Ostfriesland

Anhand zahlreicher beeindruckender, aber auch schockierender Fotos, die u.a. Wehrmachtssoldaten vom Russenlager in Wietzendorf angefertigt hatten, verfolgte Keller den Weg der sowjetischen Kriegsgefangenen, die zunächst – mit 50 Mann in einen Güterwaggon gepfercht – mit dem Zug ankamen, dann durch das Dorf zum Lager geführt wurden, wo die Registrierung erfolgte. Gerade in der ersten Zeit gab es im Russenlager keine Baracken, so dass sich die Kriegsgefangenen Erdhügel oder Erdhütten bauen mussten, um vor der Witterung Schutz zu finden. Als Verpflegung gab es nur dünne Suppe und einen Laib Brot für zehn Mann, was zur Entkräftung und zum Tod vieler Gefangener führte.

Während die verstorbenen Kriegsgefangenen anfangs noch in Särgen und in Einzelgräbern bestattet wurden, war dies später bei 300 Toten pro Tag nur noch in entwürdigenden Massengräbern möglich. Hinzu kamen die Aussonderung und Ermordung sogenannter „untragbarer Elemente“, womit Juden, kommunistische Funktionäre oder Vertreter der Intelligenz gemeint waren. Jeder zweite der nach Deutschland transportierten russischen Kriegsgefangenen fand hier den Tod.

Im August 1944 wurden – nach den überlieferten offiziellen Angaben – etwa 2.400 sowjetische Kriegsgefangene in Ostfriesland beschäftigt, so dass fast in jedem Ort ein Arbeitskommando existierte. Die Kriegsgefangenen wurden z.B. bei der Errichtung militärischer Infrastruktur, z.B. auf Langeoog und in Wilhelmshaven, oder bei Meliorationsarbeiten eingesetzt, ab 1942 verstärkt auch in der Landwirtschaft. Allerdings gibt es über diese Arbeitseinsätze nur eine vergleichsweise geringe fotografische Überlieferung.

Mit der Befreiung der sowjetischen Kriegsgefangenen und ihrer (Zwangs-)Repatriierung sowie der heute vorhandenen Erinnerungskultur in Form von Mahnmalen und Forschungsprojekten beschloss Keller seinen Vortrag.

Mit dem KZ-Außenlager in Engerhafe zwischen juristischer Aufarbeitung, Verjährung und organisierter Vergesslichkeit der 1960er Jahre beschäftigte sich der zweite Vortrag von Dr. Simone Erpel, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Vereins Gedenkstätte Engerhafe. Im Mittelpunkt ihrer Ausführung stand das in der NLA-Abteilung Aurich überlieferte staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren gegen Erwin Seifert (1915-1997), der als Kommandant des KZ-Außenlagers in Engerhafe fungierte, wo die Häftlinge für den Bau des 12 Kilometer langen Panzergrabens um Aurich eingesetzt wurden. (NLA AU Rep. 109 Nr. E 335). Diese Akte stellt bis heute die wichtigste Quelle zum KZ-Lager Engerhafe dar, in dem zwischen Oktober und Dezember 1944 über 2.000 Häftlinge untergebracht waren, von denen wiederum aufgrund der desaströsen Bedingungen 188 Insassen starben.

Aussagen zweier polnischer KZ-Überlebender brachten das Ermittlungsverfahren gegen Seifert 1965 in Aurich ins Rollen. Dabei zeigten erste polizeiliche Nachforschungen vor Ort, dass das Erinnerungsvermögen der Einwohner in Engerhafe offensichtlich stark gelitten haben musste. Ihre Aussagen waren nicht sehr hilfreich, und auch Spuren vom ehemaligen Lager waren kaum noch vorhanden. Nach 1945 hatte man Teile der Baracken abgerissen bzw. sie bis 1960 als Behelfsunterkünfte für Flüchtlinge und ausgebombte Emder Familien benutzt. Bereits in den 1950er Jahren hatte auch schon der Bau von Einfamilienhäusern auf dem ehemaligen Lagerareal eingesetzt.

Foto aus dem Bericht der Kriminalpolizei vom 21.04.1965 zur Lage des ehemaligen KZ-Lagers Engerhafe (NLA AU Rep. 109 E Nr. 335)

Im August 1965 erfolgte von der Staatsanwaltschaft Köln, die gegen Seifert wegen Kriegsverbrechen im KZ-Sachsenhausen ermittelte, ein Haftbefehl, der jedoch erst im Oktober vollstreckt wurde. Seifert, der kurz vor Kriegsende untergetaucht war, hatte seit 1954 in Baden-Württemberg als Handelsvertreter ein bürgerliches Leben führen können. In dem Auricher Ermittlungsverfahren ließ sich der begründete Verdacht, dass Seifert an Ermordungen persönlich beteiligt gewesen ist, mangels Beweisen nicht erhärten, so dass es zur Einstellung des Verfahrens kam. Diese Entscheidung wurde dabei durch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. Mai 1969, erleichtert, mit dem die Verjährungsfrist der Beihilfe bei NS-Massenmorden rückwirkend verkürzt worden war.

Dennoch kam es – wie Erpel ausführt – zu einer Verurteilung Seiferts vor dem Kölner Landgericht wegen mehrfachen Mordes und Mordversuchs an KZ-Häftlingen in Sachsenhausen. Seifert musste eine lebenslange Freiheitstrafe verbüßen, bis er 1987 auf Bewährung wieder freikam.

Nach einer lebhaften Diskussion zu den beiden Vorträgen und einer kurzen Pause präsentierten Dr. Paul Weßels und Dr. Michael Hermann wie üblich noch „Neues aus Wissenschaft und Forschung zur ostfriesischen Geschichte“ und berichteten über anstehende Forschungsprojekte.

Bildrechte: Simone Erpel
Etwa 40 Teilnehmende nutzten die Gelegenheit, sich in Engerhafe vor Ort über das ehemalige KZ-Lager zu informieren

Mehr als vierzig Teilnehmende nahmen auch das Nachmittagsangebot des Tages der ostfriesischen Geschichte wahr. Nach der Stärkung mit einem Mittagsimbiss im Gulfhof Ihnen fanden an diesem kalten, aber sonnigen Spätherbsttag zwei vom Verein Gedenkstätte Engerhafe organisierte Führungen über den KZ-Friedhof und das ehemalige Lagergelände in Engerhafe statt.

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