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Erste Stammbücher digital nutzbar

Eintrag des Christian Wilhelm Hohnstein im Stammbuch des J. U. Schrader (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 30a, pag 34 und 35)  
Eintrag des Christian Wilhelm Hohnstein im Stammbuch des J. U. Schrader (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 30a, pag 34 und 35)

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt „Digitalisierung und Erschließung der Stammbuchsammlung des Niedersächsischen Landesarchivs – Abteilung Wolfenbüttel“ hat ein erstes Etappenziel erreicht: Von den über 300 Stammbüchern, die in Wolfenbüttel unter der Signatur VI Hs 13 verwahrt werden, wurden die Digitalisate der ersten 75 Exemplare online gestellt. Zudem ist von diesen Freundschaftsalben die inzwischen erfolgte Einzelblatterschließung über Arcinsys einsehbar, so dass dem interessierten Nutzer alle wichtigen Informationen zu diesen Beständen nun im Netz zur Verfügung stehen. Die Tiefenerschließung schlüsselt dabei auf, wann und wo die einzelnen Einträge durch wen erfolgt sind, in welcher Sprache sie abgefasst sind, ggf. welche Autoren dabei zitiert werden und welche Besonderheiten der jeweilige Eintrag besitzt. Über diese Grundinformationen hinaus kann anhand der Digitalisate der genauen Formulierung des Eintrags, sowie seiner ikonographischen Gestaltung nachgegangen werden. Auf diese Weise sind nun über 6000 Stammbucheinträge leicht einseh- und recherchierbar.

Stammbücher entstanden im 16. Jahrhundert an der Universität Wittenberg. Die Praxis der dortigen Studenten, sich eigenhändige Widmungen der Reformatoren Luther und Melanchthon zu beschaffen, wurde im Laufe der Frühen Neuzeit zu regelrechten Alben ausgeweitet, in denen insbesondere Studenten und Adlige auf Reisen handschriftliche Einträge von Kommilitonen, Professoren, Honoratioren, Machthabern und sonstigen Bekanntschaften sammelten. Zunehmend führten auch Frauen, Offiziere, Künstler, Musiker, Handwerker und Gelehrte Stammbücher von gruppenspezifischer Prägung. Sie sind somit die Vorläufer der Poesie-Alben und der heute bei Kindergartenkindern so beliebten Freundebücher. Die vielsprachigen, oftmals kunstvoll ausgestalteten und reich illustrierten Stammbücher wurden zu memorialen Zwecken angelegt, sollten aber auch Beziehungsnetzwerke veranschaulichen und Dritten als Empfehlungsschreiben dienen. Damit sind sie eine wichtige historische Quelle für unterschiedliche Disziplinen und verschiedene Fragestellungen.

Eintrag Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen im Embleme-Buch der Fruchtbringenden Gesellschaft seiner Ehefrau Sophie zu Lippe (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 15, pag 9v und 10r)  
Eintrag Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen im Embleme-Buch der Fruchtbringenden Gesellschaft seiner Ehefrau Sophie zu Lippe (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 15, pag 9v und 10r)

Da der Wolfenbütteler Bestand chronologisch angeordnet ist, sind nun die 75 ältesten Stücke der Sammlung online nutzbar. Sie decken einen Zeitraum von 1573 bis ins frühe 19. Jahrhundert ab. Gerade die Stücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert (VI Hs 13, Nrn. 1-27) dokumentieren eindrucksvoll, wie sich die Gattung „Stammbuch“ in ihrer materiellen wie medialen Ausgestaltung erst selbst finden musste. So liegt dem ältesten Stammbuch der Wolfenbütteler Sammlung (VI Hs 13, Nr. 1) ein gedrucktes Buch zugrunde: Der Wittenberger Student Nikolaus Heinrichs nutzte Jost Ammans Veröffentlichung seiner Stiche biblischer Szenen, um auf den leeren Rückseiten die Autographen seiner Kommilitonen und späteren Weggefährten zu sammeln, die sich dadurch in eine enge Beziehung zur Bibelstelle der jeweils nächsten Seite setzten. Ein ähnliches Verfahren wandte Sophie zur Lippe (1599-1654) als Ehefrau Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen, des Begründers der Fruchtbringenden Gesellschaft, in ihrem Exemplar des Embleme-Buchs der Gesellschaft (VI Hs 13, Nr. 15) an: Sie ließ deren Mitglieder sich jeweils neben ihrem Emblem eintragen [Foto links]. Fast selbstverständlich verwendeten sie, da die Gesellschaft die erste deutsche Sprachakademie war, dabei die deutsche Sprache. Doch auch in anderen Stammbüchern finden sich Einträge der Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, die noch oft genug in Latein verfasst sind, das als Gelehrtensprache die studentischen Stammbücher bis weit ins 18. Jahrhundert dominiert.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass unter den zitierten Autoren die lateinischen Klassiker stark vertreten sind: Gerade Verse von Ovid und Horaz sind oft anzutreffen, dazu treten Sentenzen von Cicero und Seneca, dessen Bedeutung für die Stammbücher auch daher rührt, dass dort stoisches Gedankengut weit verbreitet ist. Unter Theologen ist selbstverständlich die Bibel als Quelle dominant, wobei nicht selten nach dem hebräischen bzw. griechischen Original zitiert wird. Hier werden erkennbar auch Distinktionsbedürfnisse der akademischen Eliten fachspezifisch befriedigt. Neben diesen aufschlussreichen gelehrten Zusammenhängen spielen aber auch typisch studentische Themen eine nicht zu vernachlässigende Rolle, die zusammengefasst weniger das Studium an sich, als vielmehr Wein, Weib und Gesang umfassen und bis zur Zote reichen können.

Stiche der Stadt Helmstedt und des Juleums in Helmstedt im Stammbuch des Gottfried Crusius (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 29, pag 4v und 5r)  
Stiche der Stadt Helmstedt und des Juleums in Helmstedt im Stammbuch des Gottfried Crusius (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 29, pag 4v und 5r)
Eintrag des Elmershaus von Haxtthaussen im Stammbuch des Moritz von Oeyenhausen (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 5, pag 53v und 54r)  
Eintrag des Elmershaus von Haxtthaussen im Stammbuch des Moritz von Oeyenhausen (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 5, pag 53v und 54r)

Dies betrifft in einem Falle auch die Bebilderung: Zwar gehören Zeichnungen nicht konstitutiv zur Gattung Stammbuch, doch finden sich in zahlreichen Exemplaren kunstvoll gestaltete Miniaturen, die im Falle des Stammbuchs des Hannoveraner Juristen J. U. Schrader (VI Hs 13, Nr. 30a) auch erotische Sujets aufweisen [Foto ganz oben]. Dagegen nutzte der Jenaer Student Otto Bernhard von Reiche sein Stammbuch (VI Hs 13, Nr. 30) auch als Skizzenbuch für Landschafts- und Stadtansichten, während im Stammbuch des Calber und später Holzmindener Rektors Friedrich Wilhelm Richter (VI Hs 13, Nr. 30) zahlreiche Ansichten von Häusern aus Calbe zu finden sind, die einen guten Eindruck von der damaligen Lebenswelt vermitteln. Die Universitätsstädte sind oft durch Kupferstiche zu Beginn des Stammbuchs repräsentiert, sei es durch eine Stadtansicht oder eine Ansicht des jeweiligen Kolleggebäudes [Foto über dem Abschnitt]. Ebenfalls ein beliebtes Sujet sind gemalte Embleme oder Allegorien, die den Betrachter zu einem längeren Nachdenken über die eingetragenen Stammbuchsprüche anregen sollten.

Bei adligen Einträgern ist ein gemaltes Wappen häufig zentraler Bestandteil des Eintrags. Hier findet sich auch das einzige Beispiel eines Vordrucks für ein Stammbuch in der Wolfenbütteler Sammlung (VI Hs 13, Nr. 5): Moritz von Oeyenhausen verwendete während seiner Studienzeit Ende des 16. Jahrhunderts in Helmstedt und Marburg das von dem bereits erwähnten Kupferstecher Jost Amman herausgegebene Stamm- und Wappenbuch (Frankfurt am Main 1579), worin bereits vorgedruckte Wappenschilde zu finden sind. Die meist adligen Einträger konnten diese dazu verwenden, ihr eigenes Wappen als gemalte Miniatur dort abbilden zu lassen. Dementsprechend verfügen 25 der 29 Einträge dieses Stammbuchs über eine solche Abbildung [Foto links].

Eintrag Lessings im Stammbuch des Friedrich Wilhelm Richter (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 45, pag 28r)  
Eintrag Lessings im Stammbuch des Friedrich Wilhelm Richter (NLA WO, VI Hs 13, Nr. 45, pag 28r)

Neben Zeichnungen finden sich in einzelnen Einträgen auch Noten. So trug sich der Komponist Georg Philipp Telemann am 23. Juni 1735 in das Stammbuch des Lüneburgers Konrad Arnold Schmid ein (VI Hs 13, Nr. 35, pag 582) und verewigte dort die Noten eines Kanons. Als zweiter berühmter Einträger in den Wolfenbütteler Stammbüchern ist Gotthold Ephraim Lessing zu nennen, der sich 1774 unter Verwendung eines griechischen Zitats des antiken Komödiendichters Menander in das oben angeführte Stammbuch des Friedrich Wilhelm Richter eintrug (VI Hs 13, Nr. 45, pag 28r) [Foto links].

Zwar dominieren in der Wolfenbütteler Sammlung die studentischen Stammbücher, die besonders in Zusammenhang mit der Universität Helmstedt stehen, doch finden sich auch Beispiele nichtstudentischer Alben: VI Hs 13, Nr. 12a bietet das Freundschaftsbuch eines namentlich nicht identifizierbaren Militärs aus der Frühzeit des 30jährigen Krieges, das durch die Angaben von Ort und Datum der Einträge die Truppenbewegung eines offenbar kaiserlichen Regiments nachzeichnet. Stammbuchhalterinnen sind für diese frühe Zeit nur im Hochadel zu finden (VI Hs 13, Nrn. 15 und 21). Aus diesem Kreis sind auch einige Einträgerinnen belegt, bürgerliche Frauen trugen sich allerdings im Umfeld der Einträge ihrer Ehemänner auch nicht selten in studentische Stammbücher ein. Eine bemerkenswerte Weiterentwicklung seines ursprünglich studentischen Freundschaftsalbums nahm der Braunschweiger Bürgermeister Franz Dohausen vor: In seinem Stammbuch (VI Hs 13, Nr. 13) sind auch seine politischen Kontakte, insbesondere nach Dänemark, aus seiner Amtszeit dokumentiert, so dass dieses Album auch für die politische Geschichte der Stadt aufschlussreich ist. Mit 409 Einträgen aus 49 Jahren ist es das umfangreichste Exemplar der nun online gestellten Stammbücher, deren erleichterte Lektüre auch die Rezeption dieses aufschlussreichen Bestandes verbessern wird.

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