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Call for Papers "Archive in Niedersachsen und der Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche"

Archive in Niedersachsen und der Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche

Ort: Niedersächsisches Landesarchiv, Hannover
Datum: 5.-7. Oktober 2023
Deadline für die Einreichung der Abstracts: 15. Januar 2023


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Veranstaltet von: Niedersächsisches Landesarchiv in Kooperation mit der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen und dem Verband niedersächsischer Archivarinnen und Archivare

Wie sich die Diktatur des NS-Staates, die NS-Rassenideologie und die Gleichschaltung von Politik und Gesellschaft sowie der Zweite Weltkrieg auf die Archive in Niedersachsen, ihr Personal und die Wahrnehmung der Aufgaben auswirkten, ist derzeit nur in Ansätzen erkennbar. Die Tagung greift dieses Desiderat für das Gebiet des Landes Niedersachsen auf und fragt auf der Basis der aktuellen Forschungsergebnisse für andere Länder und Regionen nach institutionellen, personellen und sachlich-inhaltlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Archiven verschiedener Träger vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus.

Doch der Blick soll über die engere Zeit des Nationalsozialismus geweitet werden, um die Entwicklung des Archivwesens von der Weimarer Republik bis in die 1960er/70er Jahre zu begreifen und die Auswirkungen der politischen Zäsuren genauer zu untersuchen. Dabei spielt das Aufzeigen inhaltlicher, institutioneller und personeller Brüche und Kontinuitätslinien in den Verwaltungen und Einrichtungen eine bedeutende Rolle. Die Entwicklungen in den Ländern Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe und der preußischen Provinz Hannover sowie im neu gegründeten Land Niedersachsen verdienen daher besondere Aufmerksamkeit und eine vergleichende Betrachtung. Darüber hinaus ist auch der historische Vergleich mit den Verhältnissen im Nachbarstaat Bremen ausdrücklich erwünscht.

In personeller Hinsicht ist zu fragen, ob die durch zahlreiche regional- und institutionengeschichtliche Studien sowie Untersuchungen zu einzelnen Berufsgruppen nachgewiesene personelle Kontinuität zwischen NS-Diktatur und Demokratie nach 1945 auf die Archive in Niedersachsen übertragbar ist und wie sich die Entnazifizierung auf das Verhalten der niedersächsischen Archivarinnen und Archivare auswirkte.

Als sich Archive im 19. Jahrhundert zunehmend für die wissenschaftliche Benutzung öffneten und zugleich in breiteren Kreisen das historische Interesse wuchs, verzahnte sich das Archivwesen immer stärker mit der historischen, vor allem der Landesgeschichtsforschung. Wissenschaftlich ausgebildete Archivare wirkten in der Öffentlichkeit als Protagonisten von lokalen und regionalen Geschichtsvereinen und betätigten sich häufig selbst in der Geschichtsforschung. Insofern gilt es, Archive und ihr Personal nicht nur in die größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge von Macht, Politik und Verwaltung, sondern auch von Forschung und Kultur einzubetten und dabei gleichermaßen die personellen und institutionellen Netzwerke wie auch die Geschichte verwandter Kultureinrichtungen stets im Blick zu behalten.

In fachlicher Perspektive ist das deutsche Archivwesen im 20. Jahrhundert durch eine Professionalisierung des Berufsstandes geprägt. Die NS-Ideologie beschleunigte diesen Prozess, indem der Anstieg der Benutzerzahlen vor allem in Folge genealogischer Recherchen für „Arier-Nachweise“ für einen Bedeutungszuwachs sorgte und sich dies auch in der personellen und materiellen Ausstattung der Archive niederschlug. Der „Arier-Nachweis“ brachte in Niedersachsen zudem mit den sog. Kirchenbuchämtern eine Sonderform des kirchlichen Archivwesens hervor.

Einfluss auf die archivische Überlieferungsbildung hatten mithin die im Staat und bei der NSDAP entstandenen neu geschaffenen Einrichtungen zur Sicherung und Auswertung von Unterlagen. Um beschlagnahmtes jüdisches Schriftgut konkurrierten häufig die staatlichen Archive mit dem Reichssippenamt, zu dessen Aufgaben auch die Sicherung von familiengeschichtlichen Quellen gehörte. Inwieweit sich unter diesen Umständen die Kategorien bei der archivischen Bewertung veränderten, ist derzeit nur punktuell erkennbar und verdiente für Niedersachsen weitere Betrachtung.

Während der NS-Zeit wurde der „Archivgutschutz“ zu einem wichtigen Bezugsrahmen für die Überlieferungsbildung. Dahinter stand der Anspruch des staatlichen Archivwesens Archivalien jeglicher Herkunft sicherzustellen. In enger Verbindung zum Archivgutschutz stand das Archivpflegesystem, das ab 1933 zielstrebig ausgebaut wurde. Über die in der Archivpflege Tätigen, ihre weltanschauliche Nähe zum NS-Regime, ist bislang kaum etwas bekannt. Inwiefern die Praxis der Archivpflege im Nationalsozialismus ideologisch geprägt war, aber auch welche Auswirkungen sie auf die Bestandsbildung hatte, müsste durch weiterführende Untersuchungen geklärt werden.

Mögliche Fragestellungen

Unter Berücksichtigung des skizzierten Hintergrunds richtet sich die Ausschreibung gleichermaßen an Vertreter*innen von Archiven und an Forscher*innen der Geistes- und Sozialwissenschaften. Mögliche Fragestellungen für Kurzvorträge (20-30 Minuten) zum Thema der Tagung sind:

Institutionelle und strukturelle Entwicklungen

· Unter welchen politischen und rechtlichen Bedingungen fand Archivarbeit statt?

· Welchen Einfluss hatten die vorgesetzten Instanzen im staatlichen, kommunalen und kirchlichen Bereich?

· Wie wirkten sich die politischen Zäsuren von 1918, 1933 und 1945 strukturell auf die niedersächsische Archivlandschaft vor allem in vergleichender regionaler Perspektive aus?

· Welchen Stellenwert hatten die Archive in Staat, Verwaltung und Gesellschaft?

· Welche institutionellen Verbindungen bestanden zu anderen Einrichtungen und Vereinen?

· Welche Auswirkungen hatte die Gründung von Parteiarchiven der NSDAP?

· Wie veränderten sich die archivischen Strukturen durch die Archivpflege?

· Welche Folgen hatte der Zweite Weltkrieg für die Arbeit der Archive (Kriegswirtschaft mit beschränkten Ressourcen, Kriegsschäden ...)?

· Wie wurden die kriegsbedingten Auslagerungen organisiert und kamen dabei Zwangsarbeiter, Kriegs- und Strafgefangene zum Einsatz?

Personelle Aspekte

· Wie wirkten sich die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik und die damit verbundene Diskriminierung, Entlassung und Verfolgung regimekritischer Beamter und Staatsbediensteter jüdischen Glaubens in den niedersächsischen Archiven aus?

· Haben sich Archivar*innen und Archivpfleger*innen bruchlos und mit Überzeugung in den Dienst des nationalsozialistischen Herrschaftssystems gestellt? Welche Strategien gab es, um sich der Ideologie zu entziehen? Gab es Widerstand?

· Wie gestalteten sich die individuellen Lebenswege und Karrieren unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur? Welche biographischen Brüche und Kontinuitäten gab es zwischen 1920 und 1970?

· Welche Folgen hatte die Entnazifizierung für das überprüfte Archivpersonal und wie ging es damit um?

· Welchen Einfluss hatten frühere Nationalsozialisten auf das Archivwesen in den Nachkriegsjahrzehnten? Gab es demokratische Neugestalter und konnten sie sich mit ihren konzeptionellen Vorstellungen durchsetzen?

· Wie gingen die Archivar*innen mit der NS-Zeit um? Wie schnell und wie umfassend bekannten sich die Archivar*innen zum neuen Bundesland?

· In welchen personellen Netzwerken bewegten sich Archivar*innen und blieben diese über den Zeitraum von 1920 bis 1970 konstant oder gab es Veränderungen?

· Wie viele nach 1946 eingestellte Archivar*innen hatten einen Hintergrund als "Migranten" (Heimkehrer, Vertriebene etc.)?

Aufgaben und Funktionen

· Welche Aufgaben und Funktionen hatten die staatlichen, aber auch die kommunalen, kirchlichen und übrigen Archive auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen vor, während und nach der NS-Zeit?

· Wie manifestierten sich die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Prozesse der Professionalisierung des Berufsstandes und der Modernisierung von Fachaufgaben im Alltag?

· Inwieweit veränderten die NS-Ideologie, massenhaft angebotene Akten, unkontrollierte Aktenaussonderungen zur Altpapiergewinnung, die Konkurrenz zu neuen Archiveinrichtungen (Parteiarchive und Reichssippenamt) und die Archivpflege die Kriterien und die Praxis der archivischen Bewertung und Überlieferungsbildung?

· Wie wurde mit dem Schriftgut jüdischer Gemeinden und Privatleute umgegangen? Wer war an den Beschlagnahmungen beteiligt?

· Unterstützten Archivar*innen die Instrumentalisierung der Familienforschung im Sinne der NS-Rassenideologie, beispielsweise durch entsprechende Publikationen zur sog. Sippenforschung?

· Inwiefern war die Praxis der Archivpflege im Nationalsozialismus ideologisch geprägt?

· Beteiligten sich Archivar*innen an antisemitischer Propaganda und Geschichtsschreibung?

· Wie wurden die Benutzungsverbote für Juden in den Archiven umgesetzt?

· Gab es bei Kriegsende nennenswerte Aktenverluste in den Behörden, als Folge der Luftangriffe, der Verwendung von Akten als Heizmaterial oder planmäßiger Aktenvernichtung?

· Wie ging man nach dem Zweiten Weltkrieg mit kriegsbedingt verlagerten Beständen aus mittel- und ostdeutschen Archiven um?

Abstracts von maximal 3.000 Zeichen mit einem kurzen Lebenslauf werden bis zum 15.01.2023 per E-Mail erbeten an:

abstracts@nla.niedersachsen.de

Reise- und Übernachtungskosten der Vortragenden werden erstattet. Die Tagungsbeiträge sollen in der Reihe der „Veröffentlichungen des Niedersächsischen Landesarchivs“ publiziert werden.

Auskunft erteilen:

Dr. Brage Bei der Wieden (brage.beiderwieden@nla.niedersachsen.de)

Dr. Sabine Graf (sabine.graf@nla.niedersachsen.de)

Dr. Nicolas Rügge (nicolas.ruegge@nla.niedersachsen.de)

Artikel-Informationen

erstellt am:
18.10.2022
zuletzt aktualisiert am:
21.10.2022

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