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Bühne frei im Lesesaal in Stade

Theaterstück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ wird in Abteilung Stade aufgeführt


 

Es kommt häufiger vor, dass der Lesesaal eines Archivs für öffentliche Veranstaltungen genutzt wird. Vorträge, Workshops und Tagungen finden regelmäßig in den Lesesälen des Niedersächsischen Landesarchivs statt, die Aufführung eines preisgekrönten Theaterstücks wie jetzt in der Abteilung Stade ist dagegen ein seltenes Ereignis.

Im Rahmen des „Holk Kulturfestivals“ lud das Stadeum, das Stader Kultur- und Tagungszentrum, in Kooperation mit dem Niedersächsischen Landesarchiv, Abteilung Stade, am Samstag, dem 10. September, die Besucher zu einer besonderen Inszenierung des Stücks „Rechnitz (Der Würgeengel)“ von Elfriede Jelinek ein. Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin thematisiert auch in diesem Stück einen oft verdrängten Teil der Geschichte ihrer Heimat. Namensgebend für das Stück ist nämlich das Dorf Rechnitz nahe der ungarischen Grenze, wo im März 1945 auf Einladung der Gräfin Margit von Batthyany-Thyssen auf Schloss Rechnitz ein Fest unter Beteiligung lokaler NS- und SS-Amtsträger gefeiert wurde. In der Nacht der Feier erschossen dann einige Gäste im nahegelegenen Kreuzstadl 180 jüdische Zwangsarbeiter, die zuvor ihr eigenes Grab hatten buddeln müssen. 20 weitere Zwangsarbeiter schaufelten anschließend das Grab zu, um dann selbst ermordet zu werden.

Dieser als Massaker von Rechnitz bekannt gewordene Massenmord kurz vor Kriegsende ist nie ganz aufgeklärt worden. Zwar gab es einen Prozess, von dem im Landesarchiv in Wien die Akten aufbewahrt werden, aber weder die Verantwortung der Mörder noch die Rolle der Gastgeberin Margit von Batthyany-Thyssen konnte aufgeklärt werden. Nach wie vor ist auch der genaue Ort des Massengrabes unbekannt, Zeugen verstarben unter ungeklärten Umständen und die Einwohnerschaft des Dorfes schweigt bis heute.

Elfriede Jelineks Theaterstück gibt dem Massenmord und der ausbleibenden Aufklärung einen Platz in der Öffentlichkeit – und tatsächlich entpuppte sich der Lesesaal des Landesarchivs in Stade als ein sehr gut geeigneter öffentlicher Raum für die Aufführung, lagern doch im Magazin des Archivs große Mengen an Akten, auch zu Prozessen der Nachkriegszeit wegen der Verfolgung von Gewaltverbrechen der nationalsozialistischen Zeit, so genannte NSG-Verfahren. Angefangen mit dem Foyer des Archivs über die Flure (mit Videoinstallationen) bis zum Lesesaal selbst bezog die Aufführung, ursprünglich für das Schauspielhaus Zürich im Jahr 2009 konzipiert, große Teile des 2014 gebauten Neubau des Landesarchivs in Stade in die Inszenierung mit ein. Beeindruckend lieh die Schauspielerin Isabelle Menke ganz unterschiedlichen Stimmen aus Rechnitz ihre Stimme und ihr Gesicht und wurde mit großem Applaus im Lesesaal bedacht. Dieser hat also seine Probe als Theaterbühne erfolgreich bestanden und fügt der Liste seiner Nutzungsfunktionen eine neue Möglichkeit hinzu.

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