Archive als „Mittelpunkt und Träger“ für die Erforschung der ostfriesischen Geschichte?
Mit einer öffentlichen Tagung im Landschaftsforum wurde am 24. Juni 2022 an die Gründung des Staatsarchivs in Aurich vor 150 Jahren erinnert
Etwa 70 Teilnehmer:innen aus der Region (und darüber hinaus) hatten sich im Landschaftsforum der Ostfriesischen Landschaft eingefunden, um im Rahmen einer Öffentlichen Tagung die Gründung des Staatsarchivs Aurich vor 150 Jahren zu feiern. Der leicht provokant gewählte und als Frage formulierte Titel der Tagung ging dabei auf ein Zitat im Gutachten des Münsteraner Staatsarchivleiters, Dr. Roger Wilmans` zurück, das maßgeblich zur Gründung des Königlich Preußischen Staatsarchivs in Aurich am 9. April 1872 beigetragen hatte. Denn bereits in diesem Gutachten war die Fernperspektive aufgezeigt worden, dass sich dieses neue Staatsarchiv in Aurich „zum eigentlichen Mittelpunkt und Träger der auf die Erforschung der Ostfriesischen Geschichte gerichteten gelehrten Bestrebungen“ entwickeln könnte.
Die von der Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs organisierte Tagung griff diese These auf und weitete gleichzeitig den Blick über das Staatsarchiv hinaus, indem sie sich sowohl den unterschiedliche Archivstrukturen in Ostfriesland – von den staatlichen und kommunalen Archiven bis zu den privaten Sammlungen und Archiven – als auch dem Verhältnis zwischen Geschichtsforschung und Archiven widmete.
In seinem Grußwort hob der Präsident der Ostfriesischen Landschaft, Rico Mecklenburg, die enge Kooperation zwischen Landschaft und der NLA-Abteilung Aurich hervor, die spätestens mit der Einlagerung des Depositums des landschaftlichen Archivs in das damaligen Staatsarchiv Aurich begonnen hatte und inzwischen mehr als 120 Jahre währt. Inzwischen stehe die „enge Freundschaft“ zwischen beiden Institutionen auf vielen Säulen.
Die Präsidentin des Niedersächsischen Landesarchivs, Dr. Sabine Graf, schlug den Bogen von der Gründung der Archivbehörde in Aurich durch die preußische Archivverwaltung vor 150 Jahren bis zur Integration des Archivs in das Niedersächsische Landesarchiv 2005. Zwar habe das frühere Staatsarchiv dadurch seine Selbständigkeit verloren, sei jedoch nunmehr Teil einer starken Fachbehörde.
Im ersten Vortrag der Tagung befasste sich der Leiter der Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs, Dr. Michael Hermann, mit der Rezeption und Außenwirkung des staatlichen Archivs vor allem in den ersten 50 Jahren seiner Geschichte. In dieser Phase hatten wiederholt Pläne bestanden, die in Aurich beheimateten historischen Unterlagen aus Ostfriesland nach Osnabrück bzw. Hannover zu verlagern. Hermann wies darauf hin, dass das Archiv heute nicht mehr – wie etwa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – das Ziel verfolge, alleiniger Mittelpunkt oder Träger der ostfriesischen Historie zu sein, sondern man wolle vielmehr im Verbund mit den übrigen Abteilungen des Landesarchivs und den verschiedenen kulturhistorischen Einrichtungen in der Region dazu beizutragen, dass Forschungen zur Geschichte Ostfrieslands weiterhin gewinnbringend durchgeführt werden können.
Matthias Pausch M.A., der in Personalunion sowohl das Bademuseum als auch das Stadtarchiv auf Norderney leitet, widmete sich der kommunalen Archivlandschaft in Ostfriesland. Obwohl die niedersächsischen Kommunen nach dem Archivgesetz verpflichtet seien, ein eigenes Archiv vorzuhalten, könnten momentan nur Emden, Leer, Norderney und Wittmund ein eigenes Stadtarchiv vorweisen, andere Kommunen würden ihre Unterlagen dem Landesarchiv übergeben. Dies sie eine eher „unglückliche Entscheidung“, weil die Städte und Gemeinden damit auf eine hoheitliche Aufgabe verzichten würden. Nicht zuletzt könnten Kommunalarchive als außerschulische Lernorte dienen und durch die eigene Geschichtsforschung – genau wie staatliche Archive – als Korrektiv gegenüber historischen Mythen und Legenden wirken.
Das auch in Ostfriesland nur wenig bekannte Archiv der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden stellte Magister Georg Kö vom Ostfriesischen Landesmuseum in seinem Vortrag vor. Er zeigte auf, wie das Archiv durch bürgerschaftliches Engagement entstanden war. Es umfasst nicht nur die Urkunden aus der sog. Grimersumer Kiste und eine in der Johannes a Lasco-Bibliothek ausgelagerte Handschriftensammlung, sondern auch Zeitungsausschnitte sowie Verwaltungssachen und Korrespondenz der „Kunst“. Am umfangreichsten sei mit 469 Archivkartons jedoch ein Hybridbereich aus Archiv und Sammlung, der nur unzulänglich erschlossen ist.
Ebenfalls mit dem Thema „Private Sammlungen“ beschäftigte sich Dr. Nina Hennig von der Ostfriesischen Landschaft. Sammeln – so Hennig – sei ein bedeutendes, allgemeingesellschaftliches Phänomen. Nach verschiedenen Schätzungen sollen sich sogar 95 % der Bevölkerung in der Bundesrepublik mit dem Sammeln beschäftigen, aber auch zurückhaltendere Schätzungen würden von mindestens 30 % ausgehen. Durch das Sammeln sei es möglich, sich auf einem eng umgrenzten Themengebiet zu einem Spezialisten zu entwickeln. Doch damit die Sammlungen auch für die Forschung genutzt werden könnten, sei eine ausreichende Inventarisierung und Zugänglichmachung der Stücke notwendig. Private Sammlungen haben oftmals ein großes Potential, seien aber auch risikobehaftet, falls die sammelnde Person sterbe. In Zukunft sei eine Reihe von verwaisten Sammlungen zu erwarten.
Einen Überblick über die Formen, Zentren und das Personal der Geschichtsforschung in Ostfriesland bot der Leiter der Landschaftsbibliothek, Dr. Paul Weßels. Ausgehend von Ubbo Emmius und Eggerik Beninga zeigte Weßels die Anfänge historischer Forschungsarbeit nach der Aufklärung seit ca. 1830 und beschrieb insbesondere die ab den 1870er Jahren aufkommende Heimatbewegung mit einem ausgeprägten ostfriesischen Geschichtsbewusstsein. Offensichtlich hatten Reichsgründung und rasanter Fortschritt von Technik und Industrialisierung auch hier zu starken Verlustängsten geführt und die Bewahrung der heimischen Traditionen in den Fokus rücken lassen. Dies sei gleichzeitig mit der Aufnahme ernsthafter historischer Forschung im neuen Auricher Staatsarchiv und der Herausgabe des Emder Jahrbuchs geschehen, so dass es seitdem in der Region ein Interesse an der Darstellung der Vergangenheit auf unterschiedlichen Niveaus und mit unterschiedlichen Zielgruppen gäbe. Spätestens ab der Jahrhundertwende lasse sich für Ostfriesland nicht nur eine Welle der Gründung von Heimatvereinen, sondern auch von historischen Publikationsplattformen in Heimatbeilagen und Zeitschriften feststellen, die sich auch in der Nachkriegszeit fortsetzte. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Ostfriesische Landschaft dann als Herausgeberin eine aktive Rolle im Wissenschaftsbetrieb übernommen und sei zugleich zentrale Anlaufstelle für die ostfriesische Heimatforschung gewesen. Um 1970 sei hier aber der „scientific turn“ eingeleitet worden: Mit der Abkehr von der traditionellen Familien- und Heimatforschung und der Hinwendung zu einer professionellen Historiographie ging auch die Professionalisierung der Ostfriesischen Landschaft insgesamt einher. Seit der Jahrtausendwende kam es durch die schrittweise Verlagerung der Familien- und Heimatforschung in das Internet zu einem sukzessiven Niedergang der von zahlreichen Bürgern getragenen traditionellen Heimatforschung mit Publikationen in den Heimatbeilagen und inzwischen auch zur Einstellung von einzelnen Zeitungsbeilagen. Die neue Aufgabe besteht in der Verknüpfung der wissenschaftlichen Regionalforschung mit der sehr viel schwerer greifbaren Szene der Heimatforschung im Internet, insbesondere in den social medias.
In einem abschließenden Vortrag berichteten Prof. Dr. Raingard Esser, Meggy Lennaerts MA sowie Gijs Altena MA von der Rijksuniversiteit Groningen über das sogenannte „Grenzgänger“-Projekt, das Sprach- und Alltagsgeschichte in transregionaler und interdisziplinärer Perspektive untersucht. Innerhalb des auf vier Jahre ausgelegten Forschungsprojektes sollen zwei Dissertationen entstehen, die sich mit der „Intraregionalen Migration in der Grenzregion Groningen – Ostfriesland“ zwischen 1594 und 1914 und mit dem Gebrauch und der Stellung des Niederländischen in Ostfriesland zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert befassen. Dabei konnten in den Vorträgen bereits erste Ergebnisse der Forschungsarbeit, die nicht zuletzt auf historischen Quellen aus der NLA-Abteilung Aurich beruhten, vorgestellt werden. So verwies Lennaerts am Beispiel des Bunderneulands auf mehrere Konflikte in dieser Region, die sich nicht zuletzt aus Ansprüchen der Groninger auf dieses Gebiet ergaben, während sich Altena mit dem zeitweise in Leer beheimateten „Grenzgänger“ Reinhard Rahusen (1735-1793) beschäftigte, der sich in seinen Publikationen und seiner Korrespondenz durch seine Mehrsprachigkeit auszeichnete.
Die Tagung fand bei den zahlreichen Teilnehmer:innen großes Interesse, das sich nicht zuletzt in den Nachfragen und Diskussionen zu den einzelnen Vorträgen zeigte. In der Abschlussdiskussion kam zudem die Frage auf, was unter „ostfriesischer Geschichte“ letztlich zu verstehen sei, und ob es nicht angebracht wäre, sich diesem Thema in einer eigenen Veranstaltung stärker zu widmen.